Eigentlich bin ich erfolgreich. Aber etwa ganz Wesentliches fehlt…
Ich bin Lena, 42 Jahre alt und im sozialen Bereich tätig. Nach aussen hin führe ich ein erfolgreiches Leben: guter Job, schicke Wohnung, netter Freundeskreis. Doch in letzter Zeit fühle ich mich zunehmend erschöpft und orientierungslos. Als hätte ich den Kompass für mein Leben irgendwo auf dem Weg verloren. In diesem Zustand stand ich nun am Waldrand, in einer Nacht, die so dunkel war, dass der Mond sich aus Protest hinter dicken Wolken versteckt zu haben schien.
„Was zum Teufel mache ich hier?“, murmelte ich und zog meine Jacke enger um mich. Meine beste Freundin hatte mir dieses Naturcoaching ans Herz gelegt. „Es wird dir neue Perspektiven eröffnen“, hatte sie gesagt. Aber mitten in der Nacht im Wald? Ich wollte mich gerade umdrehen und in mein gemütliches Bett zurückkehren, als eine ruhige Stimme hinter mir erklang:
„Guten Abend, Lena.“
Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Vor mir stand ein grossgewachsener, drahtiger Mann mittleren Alters, sein Gesicht war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Der Naturcoach.
Nächtliche Entdeckungsreise
„Oh, äh, guten Abend… Coach“, antwortete ich zögernd.
Er lächelte mich aufmunternd an. „Bist du bereit für deine nächtliche Entdeckungsreise?“
Ich schnaubte leise. „Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher. Warum müssen wir das eigentlich nachts machen?“
Der Coach schmunzelte, als hätte er diese Frage schon hundertmal gehört. Vielleicht war es auch so. „Die Nacht hat ihren eigenen Zauber, Lena. Sie schärft unsere Sinne und öffnet Türen zu unserem Unterbewusstsein, die tagsüber oft verschlossen bleiben. In der Dunkelheit sind wir gezwungen, unsere gewohnten Muster zu verlassen. Und genau das kann der Beginn einer Veränderung sein. Komm, lass uns ein Stück gehen! „
Widerwillig folgte ich ihm auf einem schmalen Pfad, der in den Wald führte. Mit jedem Schritt schien sich die Dunkelheit zu verdichten. Ich spürte, wie sich meine Muskeln anspannten.
Eine alte Bekannte
„Wovor hast du Angst?“, fragte der Coach leise.
Ich zögerte. Wovor hatte ich Angst? „Ich weiss nicht. Vielleicht davor, mich zu verlaufen? Oder über eine Wurzel zu stolpern?“
„Ah, die Angst vor dem Unbekannten und die Angst vor dem Kontrollverlust. Zwei treue Begleiter vieler Menschen.“ Der Coach blieb stehen. „Lass uns hier eine Übung machen. Schliesse bitte die Augen.“
Ich starrte ihn ungläubig an. „Was? Aber dann sehe ich gar nichts mehr!“
„Genau darum geht es. Vertraue mir und der Natur!“
Ich seufzte innerlich, schloss aber gehorsam die Augen. Die Dunkelheit schien mich zu verschlucken.
„Jetzt atme tief ein und aus. Spüre den Boden unter deinen Füssen. Was nimmst du wahr?“, ertönte die Stimme des Coaches.
Ich konzentrierte mich. „Der Boden … fühlt sich weich an. Und kühl.“
„Gut. Und was hörst du?“
Ich lauschte angestrengt. „Da ist ein leises Rauschen… der Wind in den Baumwipfeln? Und… ist das eine Eule?“
Geschärfte Sinne
„Sehr gut beobachtet. Die Nacht schärft die anderen Sinne. Wir lernen, uns auf das zu verlassen, was wir fühlen und hören, und nicht nur auf das, was wir sehen. Es ist wie im Leben – manchmal müssen wir aufhören, nur mit den Augen zu urteilen, und anfangen, mit dem Herzen wahrzunehmen. Öffne nun langsam deine Augen. „
Als ich meine Augen öffnete, war ich überrascht. Ich war an die Dunkelheit gewöhnt. Ich konnte Konturen erkennen, das sanfte Wiegen der Zweige über uns.
„Siehst du? Die Nacht hat ihre eigene Schönheit“, sagte der Coach leise. „Und sie lehrt uns eine wichtige Lektion: Nichts verändert sich, solange wir uns nicht selbst verändern. Aber wenn wir den Mut haben, uns zu ändern, kann sich plötzlich alles ändern.“
„Was meinst du damit?“, fragte ich, während wir weitergingen.
„Schau mal, wie du dich gerade verändert hast. Zuerst hattest du Angst vor der Dunkelheit. Aber indem du dich darauf eingelassen hast, deine anderen Sinne zu benutzen, hat sich deine Wahrnehmung verändert. Und damit auch dein Erleben des Waldes.“
Ich dachte darüber nach. Es stimmte – der Wald wirkte jetzt weniger bedrohlich, eher geheimnisvoll und faszinierend. Wir gingen schweigend weiter. Ich merkte, wie meine anfängliche Anspannung einer tiefen Ruhe wich. Die Geräusche des Waldes, das leise Knacken der Äste unter meinen Füssen, das gelegentliche Rascheln eines nachtaktiven Tieres – all das webte einen Klangteppich, der mich seltsam beruhigte.
Nach einer Weile erreichten wir eine kleine Lichtung. Der Coach deutete auf einen umgestürzten Baumstamm. „Lass uns hier rasten.“
Wir setzten uns. Über uns glitzerten vereinzelte Sterne durch die Baumwipfel.
Eine alberne Rast
„Lena, warum bist du hier?“, fragte der Coach unvermittelt.
Ich seufzte. Die Frage traf mich unerwartet. „Ich fühle mich … verloren. Als hätte ich den Kompass meines Lebens irgendwo auf dem Weg verlegt. Ich funktioniere, aber ich lebe nicht wirklich. Und egal, was ich versuche, es scheint sich nichts zu ändern.“
Der Coach nickte verständnisvoll. „Weisst du, die Nacht ist wie eine Metapher für die Zeiten in unserem Leben, in denen wir uns orientierungslos fühlen. Alles erscheint dunkel und verwirrend. Aber so wie du gerade gelernt hast, dich in der Dunkelheit zurechtzufinden, kannst du auch lernen, dich in den dunklen Phasen deines Lebens neu zu orientieren. Der Schlüssel liegt darin, dich selbst zu verändern – deine Wahrnehmung, deine Einstellung, dein Handeln.“
„Aber wie?“, fragte ich zweifelnd.
„Indem du lernst, auf deine innere Stimme zu hören. Im Dunkeln können wir uns nicht auf unsere Augen verlassen. Wir müssen anderen Sinnen vertrauen. So ist es im ganzen Leben. Manchmal müssen wir aufhören, ständig nach äusseren Anhaltspunkten zu suchen und stattdessen nach innen horchen.“
Der Coach stand auf. „Lass uns noch eine Übung machen. Stell dich gerade hin und breite die Arme aus.“
Ich folgte seiner Anweisung, kam mir aber etwas albern vor.
„Jetzt stell dir vor, du bist ein Baum. Deine Füsse sind die Wurzeln, die tief in die Erde reichen. Dein Körper ist der Stamm, stark und biegsam. Deine Arme sind die Äste, die in den Himmel ragen.“
Ich schloss die Augen und versuchte, mich in einen Baum hineinzuversetzen. Ich spürte den kühlen Nachtwind, der sanft über mich strich.
„Ein Baum steht fest, egal ob Tag oder Nacht, Sonne oder Sturm“, fuhr der Coach fort. „Er vertraut darauf, dass nach jeder Dunkelheit wieder Licht kommt. Er wächst stetig, ohne Eile. Und er ernährt sich gleichermassen von der Erde und vom Licht. Das Wichtigste aber ist: Ein Baum verändert sich ständig. Er wächst, passt sich den Jahreszeiten an, lässt los, was er nicht mehr braucht.“
Langsam öffnete ich die Augen. Ich fühlte mich seltsam geerdet und gleichzeitig beschwingt.
Der Zauber der Nacht
„Wie fühlst du dich?“, fragte der Coach.
„Anders“, antwortete ich überrascht. „Ruhiger, aber auch … lebendiger. Als könnte ich plötzlich spüren, wie das Leben durch mich hindurchfliesst.“
Der Coach lächelte. „Das ist der Zauber der Natur, besonders in der Nacht. Sie lehrt uns, dass Dunkelheit nicht bedrohlich sein muss, sondern ein Raum für Wachstum und Selbsterkenntnis sein kann. Und sie zeigt uns, dass Veränderung ein natürlicher Prozess ist. Indem du dich auf diese Erfahrung einlässt, hast du bereits begonnen, dich zu verändern.“
Wir machten uns auf den Rückweg. Der Wald kam mir jetzt vertraut vor, fast wie ein alter Freund. Die Dunkelheit, die mir anfangs bedrohlich vorgekommen war, fühlte sich jetzt wie eine schützende Hülle an.
Am Waldrand angekommen, blieben wir stehen. Der Himmel im Osten begann bereits leicht aufzuklaren.
„Was nimmst du aus dieser Nacht mit, Lena?“, fragte der Coach.
Mut… und Lust auf Neues
Ich überlegte kurz. „Ich glaube, ich habe verstanden, was du gemeint hast, dass sich nichts ändert, solange ich mich nicht selbst ändere. Indem ich mich auf die Dunkelheit eingelassen habe, hat sich meine ganze Wahrnehmung verändert. Und damit auch mein Erleben. Ich fühle mich… mutiger. Bereit, mich auf Neues einzulassen, auch in anderen Bereichen meines Lebens.“
Der Coach nickte anerkennend. „Eine wertvolle Erkenntnis. Und weisst du was? Du kannst diese Erfahrung jederzeit wiederholen. Die Natur ist immer da, um uns etwas beizubringen, wenn wir bereit sind zuzuhören. Sie erinnert uns daran, dass Veränderung ein natürlicher Teil des Lebens ist.“
Ich blickte in den Himmel, wo sich die ersten Anzeichen der Dämmerung zeigten. Ich fühlte mich erfrischt, als hätte ich nicht nur eine Nacht im Wald verbracht, sondern eine Reise zu mir selbst unternommen.
„Danke“, sagte ich leise.
Der Coach lächelte. „Nicht mir gebührt der Dank. Danke der Nacht und der Natur. Sie sind die wahren Lehrmeister. Und danke dir selbst – für den Mut, dich auf diese Erfahrung einzulassen.“
Alles wird anders…
Als ich nach Hause fuhr, wusste ich, dass dies nicht meine letzte Begegnung mit der nächtlichen Natur gewesen sein würde. Ich hatte einen neuen Zugang zu mir selbst gefunden, eine neue Art, die Welt und mich selbst wahrzunehmen. Paradoxerweise hatte mir die Dunkelheit der Nacht geholfen, klarer zu sehen.
In den folgenden Wochen merkte ich, wie sich diese nächtliche Erfahrung auf meinen Alltag auswirkte. Ich begann, bewusster wahrzunehmen, mutiger Entscheidungen zu treffen und mich auf Veränderungen einzulassen. Und tatsächlich – je mehr ich mich veränderte, desto mehr schien sich auch mein Umfeld zu verändern. Neue Möglichkeiten taten sich auf, Beziehungen vertieften sich und ich fand eine neue Freude an meiner Arbeit.
Die Nacht im Wald hatte mir gezeigt: Veränderung beginnt im Inneren. Und manchmal braucht es die Dunkelheit, um das Licht in uns zu entdecken. Wer hätte gedacht, dass eine Nacht im Wald mein Leben so verändern würde? Aber vielleicht ist es genau das, was passiert, wenn man aufhört, sich vor der Dunkelheit zu fürchten, und anfängt, sie als Lehrmeisterin zu sehen.